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Georgius Agricola (1494 – 1555) gilt als herausragender europäischer Renaissancegelehrter und Humanist. In aller Welt bekannt wurde vor allem sein Lebenswerk De re metallica libri XII, das als systematische Darstellung des gesamten Berg- und Hüttenwesens jener Zeit die Herausbildung der Montanwissenschaften einleitete und über die Jahrhunderte unerreichtes Vorbild blieb. Auch auf anderen Gebieten – Pädagogik, Medizin, Metrologie, Philosophie und Geschichte – vollbrachte er Hervorragendes und bis heute Gültiges. Die Biographie gibt Einblicke in Leben und Werk und kommentiert vor allem das wissenschaftliche Œuvre Agricolas.
„Geowissenschaftler in aller Welt nennen ihn Vater der Mineralogie, Bergmänner und Hüttenleute ehren ihn als Begründer des modernen Montanwesens, Metrologen führen ihn als philologischen Vorläufer ihrer Wissenschaft von Maßen und Gewichten, die Volkswirte rechnen ihn zu den Wegbereitern des Merkantilismus, Numismatiker nehmen ihn als einen der ersten Gelehrten in Anspruch, der Edelsteine und Münzen in einen Zusammenhang brachte, die Mediziner verdanken ihm den Begriff ‚Lazarett’, die Pädagogen betrachten ihn als Wegbereiter einer kindgemäßen Lehrmethode. Aber auch regional leistete er Vorbildliches: Er war der erste sächsische Hofhistoriograph, den Kommunalpolitikern war er Vorbild in der Leitung einer Stadt in turbulenten Zeiten. All dieses, wovon jedes einzelne schon eine beachtliche Persönlichkeit ausgemacht hätte, war vereint in der Person Georgius Agricolas.“
Als Hans Prescher (1926-1996), der verdienstvolle Nestor der Agricola-Forschung, diese Zeilen niederschrieb, machte sich die wissenschaftliche Welt auf den Weg, Agricolas 500. Geburtstag zu begehen. Dafür sah sich vor allem jene Stadt in die Pflicht genommen, auf deren Boden Agricola und seine Familie fast ein Vierteljahrhundert ihres Lebens verbrachten – Chemnitz. Bereits im dazu ausgerufenen Agricola-Gedenkjahr 1955 gedachte man auf diesem, von gewerblicher und industrieller Emsigkeit geprägten Boden seines 400. Todestages, präsentierte eine Fülle neuester Arbeiten und sorgte für den Fortgang interdisziplinärer Forschungsarbeiten; denn man sah sich „berechtigt und verpflichtet, Agricolas Andenken in der Nachwelt zu wahren, zumal er selbst ein aufrechter Mann und ein Patriot war, der zur Einheit des deutschen Volkes aufrief“.
In dem zurückliegenden halben Jahrhundert ist immens viel geleistet worden, um das Œuvre dieses herausragenden Gelehrten zu erschließen und zu publizieren, wobei Autoren und Herausgebern der elfbändigen Agricola-Gesamtausgabe (AGA) eine exzellente wissenschaftliche wie auch publizistische Leistung zu bescheinigen ist. Verdienstvoll ist gleichermaßen die Aufarbeitung der Quellen durch das Chemnitzer Stadtarchiv, anknüpfend an eine 1884 von Paul Uhle begründete und von Rudolph Strauß fortgesetzte Erforschung der Quellen zu Agricola, ergänzt durch die von Helmut Bräuer betriebenen Forschungen zur Stadtgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. In jüngster Zeit konnte die systematische Durchsicht von Quellen und Zeugnissen zu Agricola und dessen Familie sowie über Wirkungsbereiche, Lebensumstände und finanzielle Bedingungen erfolgreich fortgesetzt werden.
Im Unterschied zu genannten Forschungsthemen reichen die biographischen Arbeiten weit zurück. Als einer der ersten mühte sich sein junger Freund Georgius Fabricius nach Agricolas Ableben, wichtige Briefe wissenschaftlichen Inhalts von den Empfängern zu erwerben, um eine Briefedition mit einer Biographie herauszugeben. Doch der Plan scheiterte – nicht zuletzt am Widerstand der Familie Agricolas selbst. 1589/90 schrieb der Churfürstlich Sächsische Sekretarius Petrus Albinus die erste größere Biographie auf der Basis offenbar noch vorhandener Archiv-Dokumente, die später leider verloren gingen. Erst 1763 wurde eine weitere Arbeit im Umfang von 28 Druckseiten als Teil einer Chronik der Stadt Chemnitz publiziert; sie stammte aus der Feder von Adam Daniel Richter, dem Rektor des Gymnasiums Zittau. Allerdings bewies er dabei keine so glückliche Hand. Diese hatte eher der Freiberger Bergbeamte Friedrich August Schmid mit seinen „Nachrichten über Georg Agricolas Leben und Schriften“ (1806). Die erste Dissertation über Agricola schrieb Johann Heinrich Jacobi 1888 an der Universität Leipzig, weitere Dissertationen verfassten Erwin Herlitzius (1960) und Roland Ladwig (1988), wobei die biographischen Probleme eher im Hintergrund blieben.
Einer der maßgebenden neueren Biographen war Reinhold Hofmann, seine Arbeit erschien 1905 und stellt einen gewissen Höhepunkt in der zusammenfassenden Darstellung von Leben und Werk Agricolas dar. Auch Populärwissenschaftliches wurde verfasst: 1953 von Hans Hartmann, 1955 das „Agricola-Büchlein“ von Ulrich Horst. Mit dem Band I der AGA (1956) erschien endlich ein biographisches Fundamentalwerk, für das der Freiberger Altphilologe und Historiker Helmut Wilsdorf verantwortlich zeichnete. 1982 erarbeitete schließlich Gisela-Ruth Engewald nach gründlichen Studien eine vorzügliche Biographie, die 1993 in einer zweiten Auflage erschien.
Der unlängst begangene 450. Todestag Agricolas sowie das Jubiläum „450 Jahre De re metallica libri XII“ scheinen nun ein rechter Anlass zu sein, dem großartigen Gelehrten und Humanisten ein weiteres Mal eine biographische Schrift zu widmen und diese dem geschätzten Leser mit allem Respekt zu empfehlen.
Als Agricola nach Chemnitz kam, zeigte sich die 4500 Seelen zählende alte „Kaiserstadt“ in guter Verfassung. Eine bunt strukturierte Gewerbelandschaft war auf angemessenem Niveau und sorgte dafür, dass die Stadt im Meißnischen ihren angestammten Platz in der reichen Städtelandschaft Sachsens behaupten konnte. Ein Teil der Bürger lebte innerhalb eines Areals von ca. 500 Metern Durchmesser, gesichert durch eine 5,70 Meter hohe und mit einem Wehrgang versehene Stadtmauer sowie eine vorgelagerte Zwingmauer. Das gesamte Verteidigungswerk wurde von 24 Türmen dominiert, eine Vorstellung von deren Mächtigkeit gibt der noch heute vorhandene Rote Turm. Lange Gasse, Johannis-, Kloster-, Brüder- und Lohgasse bildeten die innerstädtischen Hauptverkehrswege, auf Haupt-, Holz-, Roß- und Topfmarkt vollzog sich das bunte Marktgeschehen. Vor den Toren der Stadt – Chemnitzer-, Kloster-, Nikolai- und Johannistor – existierten bereits 252 Grundstücke; sie bildeten die bevölkerungsreicheren Vorstädte, deren weiterer Expansion kaum etwas im Wege stand und ohne die ein intaktes Stadtgeschehen nicht denkbar gewesen wäre. Auf dem im Norden gelegenen Schlossberg thronte das im 12. Jahrhundert errichtete Benediktinerkloster, zu dem sich in den 1480er Jahren vor dem Nikolaitor ein Franziskanerkloster gesellt hatte. Kurze Zeit danach hatte der Rat auch ein neues städtisches Schulgebäude (Lyceum) errichtet, das vor allem durch seinen ersten Rektor, den berühmten Humanisten Paulus Niavis (Schneevogel), zu besonderer Blüte gelangte. Seiner Feder ist das Iudicium Iovis – eine zwar in „barbarischem Latein“ geschriebene, aber dennoch witzige, geschliffene, meisterhaft abgefasste, allerdings wenig sachhaltige Schrift zum Bergbau – zu verdanken. Für die Gläubigen standen die Marktkirche St. Jacobi und die Stadtkirche St. Johannis, in Klosternähe die neue Schlosskirche offen. Die Stellung des Abtes von Chemnitz, Hilarius von Rehburg, war weithin angesehen, die Reformation noch in weiter Ferne. Rathaus und Gewandhaus, beides in repräsentativer Form vor 1500 errichtet, vervollständigten das ansehnliche Stadtbild und markierten quasi das städtebauliche, wirtschaftliche und kommunale Zentrum.
Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens stand ein gut entwickeltes Handwerk – Schneider, Bäcker, Wollweber, Gerber, Schuster, Fleischer, Huf-, Kupfer-, Messer-, Nagel-, Sägen- und Zeugschmiede, Nadler, Sporer, Armbrustmacher und dgl. Besonderes Gewicht hatte das vielfältige Textilgewerbe, voran die traditionsreiche Leineweberei und das Tuchmacherhandwerk. An dessen Anfang stand ein durch die meißnischen Markgrafen Friedrich und Balthasar erlassenes Privileg vom Jahre 1357, das der Leineweberei, der folgenden Veredlung der Gewebe sowie dem Handel mit Rohstoffen und Fertigprodukten eine besondere Stellung im obersächsischen Raum sicherte, indem es festschrieb, eine Bleiche anzulegen, die niemand im Umkreis von 10 Meilen stören sollte. Das „Bleichprivileg“ ließ sich dennoch nicht problemlos durchsetzen, da die nichtzünftigen Dorfweber mit zahlreichen „Winkelbleichen“ – also illegalen Bleichflächen – für Unregelmäßigkeiten und Konkurrenz sorgten, so dass sich die Innungsbeschwerden beim Landesherren häuften. Zudem geriet das aus Flachsgarn hergestellte und gebleichte, gewalkte und gemangelte Linnen bald in Bedrängnis, da die Mode in zunehmendem Maße gefärbte Stoffe sowie das aus Flachsgarn und Baumwolle hergestellte Barchent bevorzugte. Dennoch konnten gewinnorientierte Produktions- und Handelskonzepte durchgesetzt werden, zumal bald auch oberdeutsches Kapital zur Verfügung stand wie auch Nürnberger und Augsburger Händler Präsenz zeigten. Den Chemnitzer Webern gereichte dies allerdings nicht in jedem Fall zum Vorteil, waren sie doch der Willkür der nach frühkapitalistischer Manier agierenden Verleger nahezu vollständig ausgesetzt. Außerdem existierte eine nicht unbedeutende Konkurrenz durch die obersächsisch-lausitzischen Zentren Zwickau und Görlitz. Als einer der einflussreichsten Verleger vermochte sich der Tuchhändler Paul Neefe zu etablieren: Mitte des 16. Jahrhunderts war er mit 8000 Gulden der größte Steuerzahler von Chemnitz, wie im Türkensteuerregister vom Jahre 1542 ausgewiesen. Er stand damit an der Spitze der 52 Reiche zählenden Oberschicht, die als Bürgermeister und Ratsherren, als Schöffen und Stadtrichter, als Geleitsmänner und Bleichrichter, aber auch als Kaufleute und Beauftragte der oberdeutschen Gesellschaften gleichermaßen Kapital und Staatsgewalt repräsentierten. Daneben existierte eine Mittelschicht von 288 Wohlhabenden und eine Unterschicht von 1225 Bürgern, zu der sowohl die Handwerker als auch die Besitzlosen gezählt wurden. Die Verarbeitung textiler Rohstoffe beschränkte sich allerdings nicht nur auf die traditionelle und an den Handwebstuhl gebundene Leineweberei, auch andere Gewerbe konnten sich erfolgreich fortentwickeln. So z. B. das aus der Wollweberei hervorgegangene Tuchmacherhandwerk, verbunden mit Walken, Färben und Tuchscheren, die Strumpfwirkerei, das Schneiderhandwerk, schließlich das Gewerbe der Hutmacher und der Posamentierer.